Das Müssen-Müssen – ist das wirklich ein Problem unserer Zeit?

Besonders wenn es sich auf Kinder und Jugendliche bezieht? Sind sie heute in einem engen Dickicht von Strukturen eingepfercht, so dass sie sich nicht mehr bewegen können, weder vor noch zurück, weder nach rechts noch nach links?

Das könnte man denken, wenn man den Aufmacher der aktuellen Bild am Sonntag von Ostern Ich muss gar nichts! liest. Ist das Problem unserer Zeit nicht eher eine große Strukturlosigkeit, dass Vieles unverbindlich ist, Menschen zu wenig Halt in ihrem Leben haben und zu früh ihrem freien, schwankenden Willen ausgeliefert sind?

Uwe Steimle nimmt in seiner „Aktuellen Kamera“, Ausgabe 145, eine Montessori-Schule in Dresden aufs Korn. Kinder, die gerade nicht Rechnen üben wollen, könnten sich dann auch mit Wildtieren beschäftigen: „3 x 3 ?“ „Ist gleich Luchs!“. Das ist doch mal ein freier und beweglicher Unterricht, an den individuellen Bedürfnissen und Interessen der Kinder orientiert, natürlich ganz frei von bewertenden Zensuren. Das wissen wir doch, dass das deutsche Kinder schon von allein können: Bei einer Sache zu bleiben und sie erst – zumindest bis zu einem angezielten Teilschritt – zu Ende zu machen, bevor sie etwas Neues beginnen. Dazu müssen sie doch nicht erzogen und trainiert werden! Und das Leben ist doch sowieso so, dass Leistung und ihre Bewertung keine Rolle für die Wirtschaft und den persönlichen Erfolg im Leben spielen.

Die absolute Hauptsache muss sein – in Deutschland! – , dass Kinder und Jugendliche Spaß haben bei dem, was sie tun. Wenn sie das gewohnt sind, werden sie Durststrecken bei schwierigen Anforderungen in der Zukunft sicher leichter überwinden können. Das muss doch das wichtigste Kriterium sein, die entscheidende Lebenshaltung, die die Kinder von frühauf verinnerlichen. (In Wirklichkeit ist es natürlich genau anders herum.) Deutschland ist auf diesem Weg schon weit gekommen. Von PISA-Vergleich zu PISA-Vergleich sackt es tiefer in der Rangreihe der Nationen (Entschuldigung, „im Ranking“ natürlich). Das wusste ja schon Lenin: Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit und nicht die in Theorien gegossene Wunschvorstellung. Weil Wladimir Iljitsch Lenin aber ein Russe ist, muss das natürlich falsch sein.

Die verstorbene deutsch-tschechische Kinderpsychologin Jirina Prekop, Autorin des Bestsellers Der kleine Tyrann: Welchen Halt brauchen Kinder? (Herrschsucht bei Kleinkindern – wie sie entsteht und was man dagegen tun kann) hat bei Vorträgen und in ihren Büchern immer wieder auf den westlichen Zeitgeist verwiesen, der Erziehung so schwierig macht. Bei den Naturvölkern, wo die Eltern gar keine Zeit haben, Bücher über Erziehung zu lesen, folgen die Kinder immer den Eltern – und nicht umgedreht – und das auch und zuerst im direkten körperlichen Sinn beim Laufen. Eine Indianer-Mutter dreht sich nicht ständig um, ob ihr Kind ihr auch folgt oder rennt ihm gar gewohnheitsmäßig hinterher, wenn es plötzlich im Dschungel auf einen Seitenpfad abbiegt. Das ginge auch nur schlecht, weil sie meistens mehrere Kinder hat.

Alle wissen intuitiv, dass so ein spontanes Abbiegen viel zu gefährlich ist. Die überwiegende Mehrzahl deutscher Kinder hat das in der Neuzeit anders gelernt: Sie fühlen sich sicher, sie wissen genau, dass die Eltern ihnen folgen, wenn es darauf ankommt. Das haben sie im Laufe der Zeit verinnerlicht: Ich bin der Entscheider, meine Eltern folgen und sie haben gefälligst schön aufmerksam zu sein, damit sie mich nicht aus ihren Augen verlieren. Genauso reagierte der Vater des verschwundenen fünfjährigen Jonas, der den Eltern beim Osterspaziergang in der Sächsischen Schweiz mit seinem Laufrad verloren ging:

Beim nächsten Ausflug kommt Jonas auf meine Schultern. Da kann er uns auch besser zeigen, wo er genau lang gelaufen ist.“ Die Eltern sagen nicht etwa, beim nächsten Mal vergattern wir ihn aber, dass er nur so weit vorausfahren oder -laufen darf, bis er uns noch sieht. Er hat ja nun eine Erfahrung gesammelt, die ihn eine solche mehrfach wiederholte Instruktion ernst nehmen lassen wird. Nichts da, er muss sich nicht ändern, er muss nicht besser aufpassen, sondern die Eltern müssen sich ändern, sie müssen besser aufpassen. Das müssen sie auch, aber nicht in dem Sinne, dass sie ihrem Sohn nun die Entscheidung abnehmen, indem sie ihn tragen, sondern indem sie ihn konsequenter und wiederholender instruieren.

 

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